Der Europäische Gerichtshof hatte in diesen verbundenen Verfahren über die vergaberechtliche Bewertung nachträglicher Vertragsänderungen bei EU-strukturfondsfinanzierten Bauprojekten zu entscheiden.
In mehreren bulgarischen Infrastrukturvorhaben waren Ausführungsfristen, technische Abläufe und Leistungsmodalitäten nach Zuschlagserteilung teils erheblich angepasst worden. Die Europäische Kommission beanstandete dies im Fördermittelrecht und stellte zugleich die Frage, ob diese Änderungen vergaberechtlich als wesentliche Vertragsänderungen im Sinne von Art. 72 RL 2014/24/EU zu qualifizieren sind.
Der Gerichtshof stellt klar, dass der unionsrechtliche Begriff der Vertragsänderung weit auszulegen ist. Erfasst werden sämtliche nachträglichen Modifikationen, unabhängig davon, ob sie in einer formellen Nachtragsvereinbarung, in einem Schriftwechsel oder lediglich in Protokollen technischer Abstimmungen erscheinen. Maßgeblich ist allein der materielle Änderungsgehalt. Jede Änderung ist daher am Maßstab von Art. 72 RL 2014/24/EU zu prüfen, um auszuschließen, dass das Vergaberecht durch spätere „Umsteuerungen“ während der Vertragsausführung unterlaufen wird.
Der EuGH betont, dass erhebliche Verlängerungen der Ausführungsfristen oder strukturelle Verschiebungen des technischen und wirtschaftlichen Gleichgewichts des Auftrags regelmäßig darauf hindeuten, dass der Auftrag seine ursprüngliche Identität verliert. Eine solche Veränderung kann dazu führen, dass der Auftrag im Ergebnis als „neuer Auftrag“ anzusehen wäre, der zwingend ein erneutes Vergabeverfahren erfordern würde. Entscheidend bleibt, ob die nachträglichen Änderungen geeignet gewesen wären, den potenziellen Bietermarkt zu beeinflussen – etwa dadurch, dass andere Unternehmen ex ante zur Teilnahme motiviert oder abgeschreckt worden wären.
Im Kern präzisiert der EuGH die Wechselwirkung zwischen Vergaberecht und Fördermittelrecht: Bei EU-finanzierten Projekten darf eine im Zuwendungsrecht zulässige Änderung nicht isoliert betrachtet werden; sie bedarf stets einer parallelen Bewertung nach Art. 72 RL 2014/24/EU. Nur so lassen sich unzulässige nachträgliche Vergaberechtseingriffe vermeiden. Vergabestellen müssen daher sämtliche relevanten Änderungen – zeitlicher, technischer oder wirtschaftlicher Natur – sorgfältig dokumentieren und systematisch an den unionsrechtlichen Kriterien ausrichten.
Die Entscheidung wirkt in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ist damit uneingeschränkt für deutsche Vergabestellen relevant, insbesondere bei Infrastrukturprojekten mit EU-Finanzierung.
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