Der am 6. Oktober 2025 ausgestrahlte Schwarzwaldkrimi „Vogelfrei“ hat ein Thema ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt, das in Deutschland bislang kaum rechtspolitische Beachtung gefunden hat: die gesellschaftliche Stellung und rechtliche Nichtanerkennung der Jenischen. Der Film zeigt eindringlich, wie tief alte Vorurteile und Ressentiments gegen das sogenannte „fahrende Volk“ bis heute nachwirken – und wie sehr sie das Verständnis von Zugehörigkeit, Freiheit und Gleichheit im modernen Rechtsstaat herausfordern.
Die Jenischen sind eine seit Jahrhunderten in Mitteleuropa lebende, kulturell eigenständige Gemeinschaft mit einer eigenen Sprachvariante, dem Jenischen. Ihre Lebensweise und Identität wurzeln in überlieferten Traditionen, die trotz sozialer Marginalisierung und staatlicher Repressionen fortbestehen. Sie sind Teil der europäischen Kulturgeschichte – und doch in Deutschland bis heute keine anerkannte nationale Minderheit.
Juristisch betrachtet ist diese Nichtanerkennung nicht zu rechtfertigen. Das Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten, das Deutschland 1997 ratifiziert hat, verpflichtet die Vertragsstaaten, Gruppen zu schützen, die über Generationen im Staatsgebiet ansässig sind, eine eigenständige kulturelle Identität aufweisen und den Willen bekunden, diese zu bewahren. Diese Voraussetzungen sind bei den Jenischen zweifelsfrei erfüllt. Ihre Sprache, ihr Traditionsbewusstsein und ihre familiären Strukturen bilden ein geschlossenes kulturelles Kontinuum, das den materiellen Kriterien einer Minderheit entspricht.
Dass eine solche Anerkennung bis heute ausblieb, ist das Ergebnis einer historischen Versäumniskette. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Jenischen in der Bundesrepublik kaum wahrgenommen. Ihre Verfolgung während des Nationalsozialismus – als vermeintlich „Asoziale“ oder „Zigeuner“, vielfach erfasst, entrechtet, sterilisiert und deportiert – wurde in der Entschädigungspraxis nicht als rassisch motivierte Verfolgung anerkannt. Damit blieb eine kollektive Rehabilitierung aus. Die Schweiz hat diesen Schritt längst vollzogen und die Jenischen 1998 als nationale Minderheit anerkannt; Deutschland dagegen verharrte in rechtspolitischer Passivität.
Diese unterlassene Anerkennung steht im Widerspruch zu den verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Schutzpflichten. Art. 3 Abs. 3 GG untersagt jede Benachteiligung wegen Herkunft oder Sprache, Art. 27 IPbpR garantiert Angehörigen von Minderheiten das Recht, ihre Kultur und Sprache zu pflegen. Beide Normen verpflichten den Staat aktiv, kulturelle Identitäten zu schützen. Es ist daher nicht nur rechtlich zulässig, sondern rechtlich geboten, die Jenischen in den Kreis der nationalen Minderheiten einzubeziehen.
Die fortgesetzte Ausklammerung dieser Bevölkerungsgruppe beruht nicht auf fehlender Rechtsgrundlage, sondern auf einem historischen Zögern, sich den eigenen Versäumnissen zu stellen. Sie ist Spiegel überlieferter Vorurteile – und damit das Gegenteil gelebter Rechtsstaatlichkeit. Der Begriff „Vogelfrei“, den der aktuelle Schwarzwaldkrimi aufgreift, steht sinnbildlich für den Zustand rechtlicher Unsichtbarkeit, in dem die Jenischen bis heute existieren.
Eine Anerkennung als nationale Minderheit wäre daher mehr als ein politisches Symbol. Sie wäre Ausdruck einer überfälligen rechtlichen Konsequenz: die Einlösung des staatlichen Versprechens, Gleichheit und Menschenwürde unabhängig von Herkunft, Lebensform oder kultureller Tradition zu gewährleisten. Deutschland verfügt über die rechtlichen Instrumente und die moralische Verantwortung, diesen Schritt endlich zu vollziehen.
Der Rechtsstaat zeigt seine Stärke nicht in der Verwaltung des Status quo, sondern in der Fähigkeit zur Korrektur historischer Ungerechtigkeit. Die Einbeziehung der Jenischen in den Kreis der geschützten Minderheiten ist kein Akt der Kulanz, sondern ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit – und ein Signal, dass Erinnerung, Gerechtigkeit und kulturelle Vielfalt in einer modernen Demokratie untrennbar zusammengehören.
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